_
toggle menu eXmatrikulationsamt.de
online: 254 gäste

> Über Moral spricht man nicht Oder doch?

Themen Layout: Standard · Linear · [Outline] Thema abonnieren | Thema versenden | Thema drucken
post 06 Jan 2006, 00:01
avatar
1. Schein
*

Punkte: 39
seit: 26.04.2005

Dirk Baecker ist Soziologe, genauer: Systemtheoretiker. Als solcher betrachtet er unsere Gesellschaft als ein kompliziertes und dynamisches Geflecht verschiedener Systeme, in dem es nicht immer harmonisch zugeht. Paul-Philipp Hanske erklärte der Professor von der Privatuniversität Witten/Herdecke, wieso wir so gerne über Moral reden und warum das nichts bringt.

Moral ist im Augenblick in aller Munde. "Manager ohne Moral" titelte etwa kürzlich "Die Zeit". Was ist Moral?

Moral liefert eine schöne Adresse für Schuldzuweisungen. Und die braucht man, wenn die Dinge kompliziert werden.

Ich dachte immer, Moral beginnt mit der Frage: Wie soll ich handeln?

Als Soziologe definiere ich Moral so: Moral erlaubt es uns einzuschätzen, wie viel Anerkennung jemand verdient. Moral gibt Antwort auf die Frage: Muss ich dem anderen Respekt erweisen?

Und was hat das nun mit dem guten Handeln zu tun?

Aber was ist denn gutes Handeln? Doch das, für das Sie Anerkennung erwarten dürfen. Ich lese auch die berühmteste Moralformel, Kants kategorischen Imperativ, so: Handle so, dass du Chancen hast, die Anerkennung von anderen eher zu steigern als zu senken. Die Aufforderung zu moralischem Handeln ist immer die Aufforderung, sich so zu verhalten, dass andere Gründe haben, einen gut zu finden.

Aber ich helfe doch nicht der alten Dame über die Straße, um toll gefunden zu werden.

Doch. Denn erstens machen Sie es, weil Sie sich selbst dabei gut finden. Es geht also um die Steigerung des Selbstwertgefühls. Und zweitens kommen Sie ja nur deswegen auf die Idee, der alten Dame über die Straße zu helfen, weil Sie Leute kennen, die das gut finden. Jeder handelt immer schon im Blick auf Dritte, die ihn beurteilen. Moral gibt vermeintliche Sicherheit. Das macht sie nicht zuletzt auch gefährlich.
Forum Flutlicht: Moral
Mehr in fluter:
Heuschrecken ohne Ende
Warum hassen wir den Kapitalismus?
Medien und Gewalt
Die Entzauberung von fünf Mythen
Gentech-Gesetze: National bis global
Konventionen, Regelungen, Verordnungen

Normalerweise wird Moral als etwas Ehrwürdiges betrachtet. Wieso bezeichnen Sie sie als gefährlich?

Moral ist - soziologisch formuliert - ein Generalisierungsmechanismus. Sie schließen aus der Handlung einer Person auf die ganze Person. Man hat dann die Neigung, aus dem jeweils zufällig beobachteten Verhalten auf das Verhalten zu anderen Zeiten und gegenüber anderen Leuten zu schließen. Ein Schuft ist immer ein Schuft. Aber stimmt das? Wenn man so denkt, landet man in der Falle des Gutmenschentums. Ein Gutmensch ist jemand, der - egal in welcher Situation - immer genau das Richtige weiß, der alle Personen beurteilen kann - und das heißt meist: moralisch verdammen, denn damit setzt er sich selbst in eine moralisch höherwertige Position. Aber in Wirklichkeit sieht er die Ambivalenz der Verhältnisse nicht und verhält sich unterkomplex.

Ist die "Ambivalenz der Verhältnisse" ein Zeichen der heutigen Gesellschaft?

Unsere Gesellschaft zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es keine einheitlichen Beurteilungsmaßstäbe gibt. Ein wirtschaftlich sinnvolles Großprojekt kann ökologisch eine Katastrophe sein. Was ästhetisch avanciert ist, kann - religiös betrachtet - eine Gotteslästerung sein. Und was für die Wissenschaft machbar ist, muss von der Politik noch lange nicht umgesetzt werden. All diese Perspektiven sind nicht mehr auf einen Nenner zu bringen. Eine komplexe Situation. Da kann schon die Sehnsucht nach einer einheitlichen Beurteilung aufkommen. Moral ist das Korrelat einer in verschiedene Wertsphären auseinander dividierten Gesellschaft. Sie kann über alles urteilen, indem sie behauptet, es gäbe so etwas wie allgemeine, global verbindliche Werte. Die gibt es aber nicht.

Ihrer Meinung nach vereinfacht Moral also unzulässig?

Realiter sind Leute immer in Situationen verstrickt. Wer moralisiert, blendet dies absichtlich aus und sucht in der Person, in deren Motiven oder gar in deren schlechtem Charakter eine Erklärung.

So passiert in der Heuschrecken-Debatte, in der Franz Müntefering gegen gefräßige Manager wetterte.

Ein typisches Beispiel für eine Moral-Diskussion. Als Heuschrecken galten die Private-equity-Organisationen, denen man nachsagt, dass sie die Unternehmen ausbeuten und dann wieder schnell davonziehen. Das ist aber nur die Spitze eines Eisberges, der Globalisierung heißt und der sehr viel mit komplexen Welthandelsstrukturen zu tun hat und überhaupt nichts mit der vermeintlichen Bösartigkeit einzelner Manager. Aber das funktionierte wunderbar. Man unterstellte den Managern ein Eigeninteresse, sprach ihnen somit die Legitimität ihres Handelns ab und hatte einen schönen Sündenbock, an dem man komplexe Verhältnisse erklären konnte, mit denen man anders nicht fertig wird. Damit kommt man zumindest in die Schlagzeilen.

Gibt es eine Regel, wann Moral auftaucht?

Ich scheue mich, ein allgemeines Gesetz des Moralisierens aufzustellen. Das wäre mir zu einfach. Aber man kann einige evolutionäre Bedingungen nennen. Die Ausgangslage muss problematisch sein - und komplex, also mehrdeutig, schwer einzuschätzen. Je komplexer etwas ist, umso größer ist die Gefahr der Moralisierung, weil man dann nach Vereinfachungen sucht. Dann braucht es Personen, die sich als Sündenböcke eignen - die Manager-Heuschrecken heute, in den 1980er-Jahren waren es die "Umweltsünder", die man persönlich für die Zerstörung an der Natur verantwortlich gemacht hat.

Aber war es nicht gut, dass vor der Umweltzerstörung gewarnt wurde?

Das war ja das Problem. Denn die Umweltschützer/innen haben ja das Richtige gesagt. Sie haben völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass die gegenwärtige Gesellschaft die Tendenz hat, sich selbst zu gefährden. Aber leider haben sie das moralisierend gemacht und damit ihre eigene Argumentation entwertet.

Hätte man es denn anders sagen können?

Wahrscheinlich nicht. Um dieses komplexe Thema in der Öffentlichkeit unterzubringen, hatte man zunächst moralisieren müssen - um Aufmerksamkeit zu erregen. Heute müssen wir nicht gleich Schuldige benennen oder aber Heilige, die - wenn sie nur dürften - alles heil machen würden. Heute sind wir diesbezüglich einen guten Schritt weiter als in den 1980er-Jahren. Wir können das Umweltproblem pragmatisch angehen.

Sollte man Ihrer Meinung nach gar nicht moralisch urteilen?

Verstehen Sie mich nicht falsch. Natürlich darf man Personen nach ihren Handlungen beurteilen - das machen alle. Wenn Moral implizit bleibt, ist sie eine völlig unverzichtbare Prämisse unseres Verhaltens. Das Problem ist, wenn die Moral explizit wird, wenn man über sie spricht. Wenn sie dazu benutzt wird, schwierige Verhältnisse vermeintlich einfach zu machen, und wenn Moralapostel sie vor sich hertragen. Dann verstrickt man sich in Beurteilungen, von denen man weiß, dass man sie bei nächster Gelegenheit schon wieder aufgeben muss.

Quelle


--------------------
Please allow me to adjust my pants so that I may dance the good time dance and put the onlookers and innocent bystanders into a trance
ProfilPM
AntwortenZitierenTOP
Beiträge
Prophet of Doom   Über Moral spricht man nicht   06 Jan 2006, 00:01
Stormi   [del by mod: na na na]   06 Jan 2006, 14:09
Onkel Possi   [same procedure here]   06 Jan 2006, 14:57
yocheckit   nachdem ich den thread durchgelesen hab, befinde i...   06 Jan 2006, 16:40
yocheckit   der beitrag wude in "liebe, sex und zärtlichk...   07 Jan 2006, 08:14
wombat1st   :lol: da gibst bestimmt auch bald nen muslim-tes...   07 Jan 2006, 22:21
Stormi   Er hat formidabel gesagt :D   07 Jan 2006, 22:00
1 Nutzer liest/lesen dieses Thema (1 Gäste)
0 Mitglieder: