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Vollständige Version anzeigen: Die Zukunft Des Kapitalismus
Prophet of Doom
Zitat
Kapitalismus ist unser faustischer Pakt

Ohne wirtschaftliche Entwicklung können wir nicht leben. Aber gleichzeitig droht die entfesselte Ökonomie, unsere ökologischen und kulturellen Grundlagen zu zerstören

Von Charles Taylor
 

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© Illustration Tolga Kocak www.lonelypixel.net
Die entscheidende Einsicht hatte Karl Marx bereits in den 1840er Jahren. Er sah, dass der Kapitalismus die innovativste und kreativste Wirtschaftsordnung der Menschheitsgeschichte ist und zugleich auch die zerstörerischste. Marx erkannte, dass der Kapitalismus einerseits zu ungeahnten ökonomischen Leistungen führt und andererseits dazu neigt, jede Gesellschaft, in der er sich entwickelt hat, unaufhaltsam zu untergraben und aufzulösen.

Marx hätte es bei dieser Einsicht belassen sollen. Stattdessen erlag er der großen, wiederkehrenden Versuchung einer Zivilisation, die ihre Entstehung der christlich geprägten westlichen Welt verdankt: Er verfiel der utopischen Hoffnung, alles Gute könne in einer einzigen harmonischen Gesellschaftsordnung vereinigt werden.

Bekanntlich bestand diese Utopie in der Abschaffung des Kapitalismus, dessen Dynamik Marx allerdings in einer unablässig kreativen und produktiven kommunistischen Ordnung beibehalten wollte. Heute hingegen tauchen dieselben Illusionen am anderen Ende des politischen Spektrums auf, nämlich bei unseren triumphierenden Neoliberalen. Sie verteidigen die Freiheit des Marktes und glauben, diese sei die einzige und perfekte Lösung sämtlicher Probleme.

Die ursprüngliche Einsicht von Marx meinte aber etwas anderes, und vielleicht könnte man sie mit dem Bild von der heillos zerstrittenen Ehe beschreiben: Ohne den Kapitalismus können wir nicht leben (denn marktförmige Beziehungen durchdringen die Gesellschaft auf vielen Ebenen), aber mit ihm können wir es kaum aushalten. Der Drang, soziale Kosten erfolgreich abzuwälzen, macht den eigentlichen Wesenskern des Kapitalismus aus. Seine Nebenwirkungen werden als »externe Effekte« ausgegeben oder zum Problem von jemand anders erklärt. Die Abwälzung von Kosten – Umweltverschmutzung, Verfall sozialer Bindungen durch unsichere Beschäftigungsverhältnisse oder Niedriglöhne und so weiter – erhöht die Profite. Dieses Verfahren ist für den Kapitalismus unwiderstehlich, jedenfalls solange es keine wirksame Abschreckung gibt.

Mit einem Wort: Kapitalistische Gesellschaften sind der Schauplatz eines andauernden Dilemmas. Wie kontrolliert man Unternehmen, um die schlimmsten sozialen und ökologischen Folgen zu verhindern, ohne gleichzeitig ihre Abwanderung zu provozieren oder das Wachstum zu schwächen? Ständig sind Regierungen gezwungen, die notwendige Kontrolle des Kapitals gegen die Gefahren der Standortverschlechterung abzuwägen. Dafür gibt es keine harmonischen Lösungen, sondern nur instabile, Schaden begrenzende Kompromisse.

Und natürlich hängen die möglichen Kompromisse vom globalen Wettbewerb ab. Die besten Lösungen für dieses Dilemma sind deshalb internationale Lösungen, wodurch sich die genannten Schwierigkeiten allerdings um ein Vielfaches vergrößern.

Besonders drastisch zeigt sich das dort, wo ökologische Fragen berührt werden. Der Kapitalismus gefährdet nicht nur die Gesundheit und das Wohl derer, die im Zuge der Globalisierung ausgegrenzt werden und die dann als Masse der Marginalisierten möglicherweise den Nährboden terroristischer Gewalt bilden. Der Kapitalismus kann auch zu irreversiblen Umweltkatastrophen führen. Jeder weiß, dass die einzige Hoffnung, beispielsweise in Bezug auf Treibhausgase, in der globalen Zusammenarbeit der Nationen liegt. Doch der mächtigste Großverschmutzer der Welt, die USA, hat sich aus dem Prozess verabschiedet. Kurzum, das Dilemma des Kapitalismus könnte uns durchaus noch umbringen.

Eines der größten Hindernisse auf unserem Weg verdankt sich der bereits erwähnten utopischen Illusion. Der Kapitalismus selbst kann niemals die Grundlage einer Ethik bilden, geschweige denn einer Religion. Zwar lässt er sich als Ausdruck eines starken Wertes wie »Freiheit« oder »Wahlfreiheit« deuten, aber mit dieser Deutung verlieren wir seine dilemmatische Natur aus dem Blick. Plötzlich erscheint uns der Kapitalismus als Retter in der Not, gar als Erlöser, der uns von allen Sorgen befreit. Diese Illusion hält derzeit die herrschenden Kreise in den USA fest in ihrem Griff.

Am anderen Ende der Welt glaubt die Herrscherriege Chinas, eine sklerotische und zunehmend korrupte exkommunistische Elite sei in der Lage, die dilemmatischen Zwänge einer außer Kontrolle geratenen kapitalistischen Revolution bewältigen zu können. Noch andere, unter ihnen einige Globalisierungsgegner, erliegen wieder einmal der marxistischen Versuchung und glauben, die Ursache des Dilemmas ließe sich einfach beseitigen.

Viele seiner Illusionen erzeugt der Konsumkapitalismus allerdings selbst. Der Wettbewerb, Waren und Dienstleistungen zu verkaufen, hat sich seit langem und vielleicht unumkehrbar in einen Wettbewerb verwandelt, in dem es um den Verkauf von attraktiven Lebensanschauungen geht – um Bilder von Glück, Freiheit und Schönheit, mit denen die Menschen aufgefordert werden, sich den Eintritt in Stilsphären »zu erkaufen«, wenn sie Haarwaschmittel, Sportschuhe oder einen Geländewagen erwerben. Markennamen sind mit bestimmten Einstellungen und Lebensweisen, einem Gefühl von Kraft und Unverwundbarkeit oder von Freiheit und Kreativität verbunden.

All das erzeugt schließlich eine neue kulturelle Kraft, die kein einfacher, ebenbürtiger Gegenspieler von Ethik und Religion ist, sondern die sich in ganz neuartiger Weise von beiden löst. Diese Kraft resultiert daraus, dass das Leben in einem zunehmend internationalen Raum gegenseitiger Zurschaustellung stattfindet. Sie lässt den Halt lokaler und nationaler Gemeinschaften erodieren und veranlasst junge Menschen dazu, sich anders in Ethik und Religion einzufügen, als es ihnen überliefert wurde.

Nicht nur das. Die Entwicklung der Konsumgesellschaft verbindet sich zunehmend mit einer Ethik der Authentizität, die im Westen immer mehr Raum greift. Unverkennbar hat sie die Tendenz, den Begriff von Authentizität und Selbstsein zu trivialisieren. Es geht hier nur noch um die zur Nachahmung medial verbreiteten Stile, während die Entdeckung substanzieller Lebensziele dahinter zurücktritt und verblasst.

So verwandelt sich die Ethik von »Freiheit« und »Individualismus«, die doch den Kapitalismus einmal rechtfertigen sollte, schleichend in eine Feier bloßer »Wahlfreiheit« als dem an sich Guten. Damit erweckt der Kapitalismus den Eindruck, als sei das Leben des Einzelnen nur deshalb schon erfüllter und glücklicher, weil seine Wahlmöglichkeiten zahlreicher werden – mögen auch die Unterschiede zwischen den Alternativen banal sein.

Manche hatten schon befürchtet, der Kapitalismus werde uns, lange bevor wir in den durch die Erderwärmung steigenden Meeresspiegeln ertrinken, rettungslos verblöden lassen (so Huxley in Schöne neue Welt). Ich selbst glaube, dass Menschen klüger und widerstandsfähiger sind und den Kontakt zu den tieferen Bedeutungen des Lebens nicht ganz und gar verlieren.

Nicht zu übersehen ist allerdings, dass der kulturelle Bereich Schauplatz von Widersprüchen ist, die der Kapitalismus allesamt selbst erzeugt. So ist der Kapitalismus vielleicht unser faustischer Pakt, wie Goethe es am Ende von Faust II selbst anzudeuten scheint. Faust erscheint darin als titanenhafter Bauunternehmer, und das alte Paar Philemon und Baucis nimmt sich aus wie Geopferte und Marginalisierte. Wir versuchen, der Ökonomie und der wirtschaftlichen Entwicklung durch vorauseilende Bejahung zu entkommen; wir wollen schneller sein als »der Geist, der stets verneint«. Dabei entgeht uns, dass gerade die unablässige Bejahung des ökonomischen Fortschritts vielleicht die verheerendste Verneinung von allen ist.

Charles Taylor, einer der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart, ist Professor emeritus für Philosophie an der McGill-Universität, Montreal/Kanada. Zu seinen Hauptwerken gehört die Studie »Quellen des Selbst« (Suhrkamp Verlag)

Aus dem Englischen von Karin Wördemann

© DIE ZEIT 04.05.2005 Nr.19
Hannes
Der Artikel zeigt wirklich schön den Dualismus des Kapitalismus auf. Gut, dass über dieses Thema auch auf einer metaphysischen Ebene geredet werden kann und nicht nur auf der Ebene des Wahlkämpfers Müntefering. In letzter Zeit höre ich ab und zu die Nomenklatur Kapitalfaschismus. Die ist ungefähr genau so gut wie Judenkommunismus.
Chris
Zitat(Hannes @ 06 May 2005, 00:50)
Der Artikel zeigt wirklich schön den Dualismus des Kapitalismus auf. Gut, dass über dieses Thema auch auf einer metaphysischen Ebene geredet werden kann und nicht nur auf der Ebene des Wahlkämpfers Müntefering. In letzter Zeit höre ich ab und zu die Nomenklatur Kapitalfaschismus. Die ist ungefähr genau so gut wie Judenkommunismus.
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Könntest du mal bitte die 6 Begriffe (Kapital, Faschismus, Kapitalfaschismus, Juden, Kommunismus, Judenkommunismus) erklären, und inwiefern diese gut oder schlecht sind?
Danke.
Hannes
So etwas zu machen wäre einfach Schwachsinn. Da musst du Münte fragen.
mausilein28
Zitat(Prophet of Doom @ 05 May 2005, 12:35)

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Hi ich bin ganz neu hier... Ich muss in Deutsch (Leistungskurs 12. Klasse) einen Vortrag halten, in dem ich beantworten muss welcher Gesellschaftsordnung Faust im 2. Teil zuneigt. Du hast es in deinem Beitrag hier erwähnt, nun wollte ich dich fragen ob du mir vielleicht mehr darüber sagen kannst.
Das wäre sehr nett von dir...
Ich hoffe du antwortest bals... Dankeschön
MfG Jule